Seit einer Woche sind wir nun Zeitzeugen einer großen europäischen und weltweiten Krise: Krieg in Europa. Eine menschengemachte Katastrophe. Sie fußt auf Werten, die viele Menschen weltweit nicht teilen. Die Gefühle dabei: Wut, Trauer, Angst, Zerissenheit. Aber da gibt es auch Hoffnung: so viele Menschen, die tatkräftig humanitäre Hilfe leisten!
Der Krisenzustand ist im Jahr 2022 ja nichts Neues. Wie wir in der Krise Informationen teilen, uns auf dem neuesten Stand halten und kommunizieren – das hat sich seit der Wirtschaftskrise 2008 entwickelt. So war etwa eine neue Art von gesellschaftlicher Mobilisierung im arabischen Frühling 2010/2011 oder bei Occupy Wallstreet 2011 zu beobachten: Die Kommunikation über die Ereignisse passierte – vor allem über Twitter – in Echtzeit und war fast für den gesamten Erdball verfügbar. Social Media spielt nun auch im Jahr 2022 eine deutliche Rolle im gesellschaftlichen Umgang mit dem Krieg. Neben Twitter gibt es jetzt nicht nur Facebook und Instagram, sondern auch die Videoplattform Tiktok. YouTube hat ordentlich an Bedeutung gewonnen und Nachrichtendienste wie Telegram laufen heiß. Die Menschen sind nicht länger nur Zuschauer, sie gestalten ihre Welt mit – auch in schwierigen Lagen. Dazu kommt: Die Welt ist sich seltenerweise einmal einig. Wird der Traum vom unabhängigen, mündigen Bürger durch das Internet also doch noch wahr? Das Internet – Zugang zu Wissen, Wahrheit und die Chance, sich mit den Menschen zu verbinden? Wir sind jedenfalls in der redaktionellen Gesellschaft angekommen (dieser Begriff wurde erstmals vom Medienwissenschaftler John Hartley verwendet): Nach der digitalen Gesellschaft sind es nun die Bürger selbst, die zu Journalist:innen werden – und dabei ein großes Maß an Verantwortung tragen. Ein eindrückliches Beispiel jüngster Zeit: die Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten hätte ohne das Video, das eine Passantin vom Vorfall aufgenommen hat, wahrscheinlich weniger Welle geschlagen. Die Krise macht es aber auch erforderlich: Medienkompetenz deluxe ist gefragt.
Herausforderungen der mündigen Gesellschaft
An manchen Stellen hapert es da noch, der Blick auf manche Posts und medienwirksame Aktionen bleibt zuweilen befremdlich (ob von Profis oder Privatpersonen getätigt). Da haben wir zum einen übertriebene Heroisierung der einen oder anderen Seite. Applaudieren, dass die ukrainischen Zivilisten sich bewaffnen und nun heldenhaft ihr Land verteidigen müssen? Come on, wir sind doch nicht in Texas oder Georgia, wo es zum Alltag gehört, schwer bewaffnet zum Supermarkt um die Ecke zu gehen! Ukraine ist in allererster Linie Opfer – und dass sich Nation und Menschen dort nun verteidigen müssen, mag dazu verleiten, die ukrainische Bevölkerung zu Helden zu machen. Jedoch begeben wir uns in dieser Narrative in den Krieg – und eigentlich geht es ja darum, den imperialistischen Kriegsgedanken nicht weiter zu befeuern.
Zum anderen haben wir blinden Aktionismus. Boykott russischer Restaurants? Was hat denn bitte ein russisches Restaurant mit Putins Größenwahn zu tun? Meanwhile haben Aldi Nord und Aldi Süd russische Produkte aus dem Markt genommen. Ob das wirklich effektiv ist? Aldi Süd jedenfalls betonte, man wolle ein Zeichen setzen. Auch Aufrufe an das russische Volk, gegen Putin zu rebellieren, erscheinen mir zu kurz gedacht. Wer in Russland auf die Straße geht, lebt sehr gefährlich. Warum genau die Parole “Krieg gegen den Krieg” auf verschiedenen Ebenen nicht aufgehen kann, erörtert der Kommentar von Philipp Gebhardt, Sprecher der Schweizer Bewegung für Sozialismus.
Und natürlich sind sie auch in dieser Krise weit gestreut: die alternativen Fakten. Immerhin: Twitter, Youtube & Co. haben einiges dazu gelernt in den letzten Jahren und verstärken ihre Kontrollen gegen Fake News. (Telegram hält sich – das ist nichts Neues – zurück mit der Beschränkung von kruden Inhalten.)
Was hat das alles mit uns zu tun?
Es ist nichts Falsches daran, dass sich die Zivilgesellschaft mündig und solidarisch zeigt. Dennoch sollten Posts in Social Media (ebenso wie Hilfsaktionen) mit Bedacht angegangen werden. Ein Kommentar von Claudia Wieschollek im t3n-Magazin nennt es etwa “brandgefährlich”, dass sich das Hackerkollektiv Anonymous (die auch eine Rolle bei Occupy Wallstreet spielten) in das Kriegsgeschehen einmischt – ohne etwas von den komplexen Vorgängen zu wissen, die hinter den Kulissen statt finden.
Oder haben wir hier nicht nur eine redaktionelle Gesellschaft, sondern bereits ein so aktivistisches Level erreicht, das es den Bürgern möglich macht, sich quasi querbeet in die Politik einzumischen? Immerhin, Elon Musks Rettung des ukrainischen Internets ist als Einfluss auf den Krieg garantiert nicht zu unterschätzen.
Man kann es sehen wie man will. Am Ende handelt es sich nach wie vor um Krieg. Menschen sterben, werden verletzt, verlieren ihr Zuhause, werden in den Kampf geschickt, traumatisiert und unterdrückt.
Wie realisiert man also Kommunikation in der Krise am besten?
Indem wir empathisch bleiben. Fragen wir uns doch, ob wir uns überhaupt zum Thema äußern möchten. Nicht jeder Mensch und jedes Unternehmen muss öffentlich Stellung beziehen. Wenn es Äußerungen geben soll, dann müssen sie sorgfältig gewählt werden und vor allem sensibel gegenüber den Kriegsopfern zum Ausdruck gebracht werden.
Gründe für eine Stellungnahme können sein:
- Du oder dein Unternehmen sind geografisch oder thematisch eng mit der Krise verbunden.
- Du oder dein Unternehmen beteiligen sich in der Regel aktiv am gesellschaftlichen Diskurs.
- Du oder dein Unternehmen starten oder unterstützen konkrete Aktionen zur humanitären Hilfe.
- Du oder dein Unternehmen sind im Bereich Mental Health unterwegs.
- Du möchtest Solidarität und Mitgefühl zum Ausdruck bringen.
Wir müssen uns nicht profilieren, sondern aufmerksam verfolgen. Uns auch die Mühe machen, das Komplexe auszuhalten, Informationen in ihren Kontext setzen und unseren Werten von Solidarität und Frieden treu bleiben. Ich muss in den Tagen oft an die Quote von Tupac denken: don’t hate the player, hate the game. Lenke deinen Hass nicht auf die Menschen, sondern auf das System, in dem sie gefangen sind.
Social Media Posts in Kriegs- und Krisenzeiten – How to?
Wie also in Krisenzeiten kommunizieren? Es handelt sich schließlich um eine delikate Angelegenheit. Wir wollen weder falsche Informationen teilen, noch über das Leid vieler Menschen hinweg gehen. Wie so oft kann man in der Social Media-Welt zwar vieles falsch machen, aber vieles auch ausprobieren. Wichtig ist dabei, dass wir empathisch vorgehen. Kommt uns etwas nicht richtig vor? Dann lieber nicht posten. Weniger hilfreich sind Meinungen oder gar Hetze und Ausgrenzung. Hilfreich dagegen sind Hilfsangebote und Infos über tatkräftige Unterstützung. Konstruktive Beiträge zum Diskurs bleiben sachlich und blicken mit wachsamen Augen auf die Geschehnisse.
- Die wichtigste Frage zuerst: Wie geht es dir gerade? Wie geht es mir gerade? Wie geht es meinen Mitmenschen und denen, die ich ansprechen möchte?
- Möchte ich oder mein Unternehmen etwas zum Thema beitragen? Wenn ja, warum?
- Bei der Sache bleiben: Solidarität und humanitäre Hilfe statt Profilierung und blinder Aktionismus!
- Praktische Informationen teilen: etwa Infos zu Spendenaktionen und Hilfsaktionen.
- Tat geht vor Wort – lieber mit anpacken als große Reden schwingen oder politisch überzeugen zu wollen (obwohl das Sprechen darüber auch einen hohen Stellenwert hat!).
- Nur Facts von seriösen Quellen übernehmen, Quellenkritik und Fact Checks durchführen, bevor Infos übernommen werden. (Seriöse Inhalte sind zum Beispiel Videos, die von einer Redaktion professionell auf ihren Wahrheitsgehalt und passenden Kontext geprüft wurden. Kritisch sind Quellen wie Videos, die etwa von einem scheinbaren Soldaten an der Front ohne Zusammenhang über Telegram eingespielt werden: viele dieser Videos sind gar nicht aktuell, sondern von anderen Kriegen.)
Bitte auch beachten: Nichts zum aktuellen Krisenthema zu posten, heißt nicht, dass man nicht betroffen ist oder nicht solidarisch verbunden ist. Sehr viele Menschen sind vom Leid betroffen – und auch ein Post, der nichts mit dem Thema zu tun hat, kann negativ auf die Gemüter schlagen. Entsprechend ist es in akuten Krisenzeiten auch ratsam, es nicht mit Mega-Gute-Laune-Posts zu übertreiben: Diese werden am besten verschoben oder neutral getextet.
Photo by: Jimmy Liao