Mahnmal

Dynamisches Erinnern
Der Holocaust und der Himmel

Mitten in der Stadt ist es: das Meer. Ein Meer aus grauen Stelen, unterschiedlicher Höhe, unebener Boden, als könnte man darin versinken oder vielleicht auch doch nicht. Wer sich auf die Reise ins Innere wagt, kommt oft beklemmt, oft mit fragendem Blick, hilflos zurück. Um welche Attraktion es sich hier handelt, wird vielen erst klar bei einem Besuch ins Museum ein Stockwerk darunter. Es ist das Holocaust-Mahnmal, mit dem Deutschland sich zur Verantwortung der ermordeten Juden bekennt. Und mit dem auch allen Besuchern Berlins angeboten wird, sich mit der Geschichte des Holocaust und sich mit dem Erinnern als solchem auseinander zu setzen. Denn der Raum der Erinnerung ist hier bewusst offen gehalten. 

Verstecken verboten?

Für Kinder sind die Stelen nämlich auch ein super Platz, um Verstecken zu spielen, für manche dienen die Stelen als Bank zum Ausruhen, um in den Sonnenstrahlen im Lonely Planet zu schmökern. So mancher Kerl wird zum Kind und klettert hoch hinauf auf die Stelen; die Securities, die abgestellt werden, um genau das zu verhindern, sind rund um die Uhr beschäftigt. Jüngst hat auch die Sängerin Pink bei ihrem Berlinbesuch polarisiert, nachdem sie Fotos veröffentlichte, auf denen ihre Kinder von Stele zu Stele springen. Es passieren durchaus nicht selten Pink-ähnliche Konflikte am Holocaust-Mahnmal. Etwa auch, wenn der Enkel einer Holocaust-Überlebenden eine Gruppe anpöbelt und fragt: “Wie kommen die Leute nur dazu, es sich auf den Stelen gemütlich zu machen? Das ist ja schließlich ein Ort der Trauer, ein Ort des Respekts. Wie ein Friedhof.” Der Holocaust betrifft auch Einzelschicksale, die sich durch Familiengeschichten und persönliche Biografien weben. 

Risse in der Erinnerungskultur
Der grenzenlose Sprung

In einer demokratischen Kultur des sich-Erinnerns muss es immer mindestens zwei Ebenen geben, deren man gerecht werden muss: Der gesellschaftlichen und der individuellen. Die gesellschaftliche Ebene wird damit bedient, dass Berlin sich das Mahnmal mitten in die Stadt und somit den Holocaust ins Zentrum der Gesellschaft stellt. Es ist weltweit einzigartig, dass eine Nation für die Opfer eines Genozides ein Denkmal errichtet. Dass Raum für Erinnerungskultur geschaffen und erfahrbar gemacht wird. Dass darüber offen gesprochen wird, das ist Teil der Erfolgsgeschichte Erinnerungskultur. Knapp 500.000 Personen haben das Mahnmal im letzten Jahr besucht. 

Wo fängt Respekt an?

Auf der individuellen Ebene wird klar: So viele Personen, wie es auf der Welt gibt, so viele Arten gibt es, mit Trauer umzugehen. Vielleicht wurde das Mahnmal deshalb so offen gelassen für die Interpretation. Wie soll der Schrecken, der 6 Millionen Juden tötete, auch sonst in eine Art Architektur gefasst werden? Die Stelen am Rand des Mahnmals sind nicht höher als der Boden selbst, bis sie sich dann, weiter hinein ins Innere, als Stelen überhaupt erst bemerkbar machen. Besucher werden also gezwungenermaßen quasi auf den Stelen stehen müssen, wenn sie ins Betonmeer gehen. Wann ist die Grenze erreicht? Wie und wann mache ich mich schuldig? Wann handelt es sich um Unrecht, und wann schreite ich ein, wenn ich Unrecht bezeuge? Wann bin ich bereit, mit Normen oder Gesetzen zu brechen, um für Menschenrechte einzustehen? 

Ungefähr zehn Gehminuten, ein Spaziergang Unter den Linden – und die Berlinbesucher finden sich auf dem Bebelplatz wieder. Hier wurden am 10. Mai 1933 tausende Bücher verbrannt. Bücher, die sich mit Gedankengut beschäftigten, das den NS-Machthabern nicht in den Kram passte. Auch hier wird das Gedenken offen kultiviert. Ein Raum voller leerer Bücherregale, im Boden eingelassen und nur durch ein kleines Fenster zu sehen, gibt einen kleinen Ausblick auf eine Welt, in der Wissen, Kultur und Kunst nicht mehr existieren dürfen. Bei beiden Erinnerungsstätten stehen Kunst- und Ausdrucksfreiheit im Zentrum, und es ist die Aufgabe einer demokratischen Gesellschaft, diese Werte zu wahren. Das Holocaust-Mahnmal gibt die Chance, sich auf individuelle Weise die eigene Vergangenheit erfahrbar zu machen. Jede Person hat das Recht inne, sein eigenes Erinnern auf die ganz eigene Art auszudrücken. Auch Pink machte beim Besuch des Holocaust-Mahnmals alles richtig. Sie ist dabei in guter Gesellschaft: Architekt Peter Eisenmann hat nichts gegen spielende Kinder im Mahnmal. 

Lonely Planet
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